Architektur für Menschen mit Demenz gibt Raum für individuelle Lebensgeschichten

Vertrautes neu zu denken ist eine der wichtigsten Aufgaben von Architekten beim Entwerfen von Pflegeheimen für Menschen mit Demenz. Ein wohnliches Ambiente und Sicherheit sind wichtige Stichworte, und es gilt, vertraute Formen und gesunde Materialien zu verwenden, um Wohnungen und Umgebungen mit Raum für die individuelle Lebenssituation und Lebensgeschichte der Menschen zu kreieren.

Photo: Thomas Mølvig, architect

Wenn die kognitiven Fähigkeiten krankheitsbedingt versagen und die Menschen ihren Alltag nicht mehr alleine bewältigen können, ist oft der Umzug in eine Einrichtung für betreutes Wohnen erforderlich. Das ist meist eine gravierende Veränderung – gerade für Personen mit Demenz. Für sie es besonders wichtig, eine sichere Umgebung zu schaffen, die ihr Wohlbefinden und ihre Lebensqualität gewährleistet.

Architektur, die Senioren mit Demenzdiagnose unterstützt, wird immer mehr nachgefragt. Hier ist insbesondere von Würde, Lebensqualität und Respekt für die älteren Menschen die Rede. Die Bauplanung nimmt ihren Ausgangspunkt im Individuum und zeigt Verständnis für dessen Lebenssituation und Bedürfnisse. Dr.-Ing. Jonas E. Andersson ist Architekt und Dozent für Architektur und Stadtplanung am Institut für urbane Studien der Universität Malmö und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Architektur für Senioren mit Demenz. Ihm zufolge ist es gerade die Rücksicht auf das Individuum, die in der Praxis den Unterschied macht.

„Das Verstehen des Individuums ist ganz entscheidend, wenn man Entwürfe für diese Zielgruppe macht. Wir müssen in Rahmen einer Architektur denken, die unterstützt und nicht stigmatisiert. In der Vergangenheit wurden Gebäude für Menschen mit Demenz versteckt, während heute mehr Wert darauf gelegt wird, sie als natürlichen Teil der übrigen Gesellschaft zu integrieren. Für ältere Menschen mit Demenzproblemen ist es äußerst wichtig, andere Menschen um sich herum zu sehen, wenn es ihnen gut gehen soll“, sagt Andersson.

Diese Meinung teil auch Kristina Møller Hansen, Architektin und Segmentspezialistin für den Pflegebereich beim dänischen Architekturbüro Friis & Moltke. In den letzten Jahren haben sie und ihre Kollegen mehrere Pflegeheime für Menschen mit Demenz entworfen, darunter Huset Nyvang in Randers und Tornhøjhaven in Aalborg. Im Mittelpunkt beider Projekte stehen Bewohnerinnen und Bewohner mit Demenz.

„Gute Architektur für Menschen mit Demenz muss in der Lage sein, die Lebensgeschichten und den Alltag, den die Bewohner mitbringen, zu berücksichtigen. Es geht um ihr Zuhause und ihren Alltag, und es liegt in unserer Verantwortung als Architekten, einen Rahmen zu schaffen, der die Alltagsbewältigung und das sinnstiftende Miteinander der Bewohner unterstützt, das gesamte Demenzspektrum umfasst und die Lebensqualität des Einzelnen maximiert“, meint Møller Hansen.

 

Foto: Huset Nyvang, Pflegeeinrichtung und Kindertagesstätte unter einem Dach in Randers, Dänemark

Reizbegrenzung

Zu viele neue Eindrücke können bei Menschen mit Demenz Unruhe und Unsicherheit hervorrufen. Aus dem gleichen Grund legen Architektinnen und Architekten, die in diesem Bereich arbeiten, einen besonderen Fokus auf die Wahl bekannter Formen, Materialien, Textilien und Möbel, die ein gewisses Maß an Vertrautheit und Wohnlichkeit für die Bewohner schaffen können.

„Wir versuchen, so weit wie möglich mit wiedererkennbaren Materialien mit haptischer Struktur zu arbeiten, die den sterilen Eindruck einer Pflegeeinrichtung abschwächen und stattdessen ein Gefühl von Zuhause vermitteln. Anstatt im blauen Flur zu wohnen, wohnt man viel besser am großen Baum oder Teich. So schaffen wir Ruhe und Sicherheit rund um die Wohneinheiten“, erklärt Kristina Møller Hansen.

„Materialien können viele Funktionen haben. Wenn man sich zum Beispiel die Frage der Akustik ansieht, sind Schall und Geräusche etwas, was die Bewohner stark beeinflusst. Die Akustik spielt also eine zentrale Rolle in einem Gebäude, in dem einige Bewohner manchmal laut werden. Mit den Akustikplatten von Troldtekt können wir die Schallwellen einfangen, die Nachhallzeit begrenzen und diejenigen vom Lärm abschirmen, die sehr geräuschempfindlich oder hörgeschädigt sind. Darüber hinaus bietet Troldtekt eine haptische Oberflächenstruktur, die dem Raum visuell Wärme hinzufügt.“

Auch Jonas E. Andersson weist auf die Innenarchitektur als wichtigen Faktor für das Wohlbefinden hin – und als einen Punkt, an dem sich schwedische Demenzzentren verbessern können:

„Damit ein Sicherheitsgefühl entsteht, kommt es auf den Gesamteindruck an. Somit haben auch Farbgebung und Einrichtungsgegenstände eine Wirkung auf die Bewohner. In Schweden werden solche Interieurs oft weiß und sehr klinisch gestaltet, weil die Frage der Hygiene eine große spielt. Es schafft jedoch Unbehagen unter den Bewohnern, wenn sie sich in einer Krankenhausumgebung aufhalten, aber gar nicht verstehen, dass sie krank sind.“

 

Wohnlich bis krankenhausähnlich

Jonas E. Andersson hat einen profunden Einblick in dieses Paradoxon. In seinem Aufsatz „Architecture and Ageing: On the Interaction between Frail Older People and the Built Environment“ (Architektur und Altern: Zur Interaktion zwischen gebrechlichen älteren Menschen und dem baulichen Umfeld) stellt er drei Konzepte vor, die sich daraus ergeben, wie schwedische Pflegeheime für Demenzkranke häufig wahrgenommen werden:

 

  • Homelike – wohnlich, gemütlich

  • Hotel-like – hotelähnlich

  • Hospital-like – krankenhausähnlich

 

Die Konzepte basieren darauf, wie Formen, Materialien, Möbel und Textilien jeweils dazu beitragen, eine ganzheitliche Umgebung zu schaffen. Hier zeigt die Forschung in Schweden, dass ältere Menschen mit Demenz sich in einer wohnlichen Umgebung am besten fühlen, während eine krankenhausähnliche Umgebung sie eher verwirrt.

„Es liegt auf der Hand, dass dies Anforderungen an die Architektur stellt, wenn man älteren Menschen mit erhöhtem Pflegebedarf gerecht werden will. Barrierefreiheit und Benutzerfreundlichkeit werden zu entscheidenden Faktoren. Es muss breitere Türen, größere Badezimmer und Platz für Personenlifte geben, doch gleichzeitig soll die Umgebung sich wie ein Zuhause anfühlen“, erklärt Andersson.

„Wir sollten uns bemühen, ein wohnliches Umfeld für Bewohner und Angehörige zu schaffen. Das wird in Dänemark etwas besser gelöst als in Schweden, wo Senioren- und Pflegeheime oft sehr krankenhausähnlich gestaltet sind. Ich denke, wir in Schweden können das in Zukunft besser machen, wenn wir anfangen, die Entwicklungsmöglichkeiten und die veränderten Bedarfe nach der Corona-Pandemie zu betrachten.

Friis und Moltke ist es gelungen, das Wohnliche in die Häuser zu holen und das Krankenhausähnliche abzuschwächen – zumindest als störendes Element für die Bewohner.“

„Bei dieser Art von Gebäuden beginnen wir immer damit, Konzepte für Arbeitsabläufe und Logistik festzulegen. Hierunter fallen beispielsweise Lebensmittel, Medikamente, Kleidung, Bettwäsche und sonstige Vorräte. Solche praktischen Dinge spielen immer eine Rolle. Es geht ja nicht nur um das Zuhause der Bewohner, sondern auch um einen Arbeitsplatz, der funktionieren muss. Indem wir die Logistik so weit wie möglich abseits der Wohneinheiten ansiedeln, sorgen wir für sehr wenige Störungen für die Bewohner. So können die Mitarbeiter die praktischen Aufgaben in Ruhe erledigen und befinden sich dabei dennoch in unmittelbarer Nähe zu den Bewohnern“, berichtet Kristina Møller Hansen.

Andersson und Hansen sind sich jedoch einig, dass die Entwicklung in die richtige Richtung geht und ein solides Fundament für die Zukunft vorhanden ist.

„Politik und Gesellschaft haben erkannt: Wenn wir uns um den wachsenden Anteil älterer Menschen kümmern wollen, müssen wir bald loslegen. Es gibt keine feste Vorlage dafür, wie Seniorenwohnungen aussehen sollten, aber wir haben viele gute Elemente, auf denen wir aufbauen können. Das Wichtigste ist jedoch, dass wir uns daran erinnern, bei der Gestaltung unserer Architektur die Bedürfnisse von älteren Menschen in den Mittelpunkt zu stellen“, sagt Jonas E. Andersson abschließend.

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